Berliner Erklärung für eine
zukunftsorientierte berufliche Bildung
Der Berliner Arbeitsmarkt leidet unter einem eklatanten Fachkräftemangel, der sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen wird. Dennoch bleibt in der Stadt ein erheblicher Teil der Qualifizierungspotentiale ungenutzt. So gelingt vielen Jugendlichen kein Zu-gang zu beruflichen Qualifikationen. Mehr als 15% aller Schulabgänger*innen landen in einer Warteschleife des sogenannten Übergangssektors. Die Jugendarbeitslosigkeit ist in Berlin doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Darüber hinaus sind 14% der 25-34-Jährigen ohne eine abgeschlossene Berufsausbildung. Diese Situation gefährdet nicht nur die wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit der Stadt, sondern auch ihren sozialen Zusammenhalt.
Dennoch spielt berufliche Bildung in der politischen Debatte der Stadt nicht die Rolle, die ihrer Bedeutung zukommt. Probleme werden nur als Probleme einzelner Zweige beruflicher Bildung (z.B. als Attraktivitätsprobleme dualer Berufsausbildung) wahrgenommen, obwohl doch die einzelnen Zweige beruflicher Bildung – duale und vollzeitschulische Berufsausbildung, Hochschulbildung und berufliche Weiterbildung – eng voneinander abhängig sind und sich zueinander verhalten wie kommunizierende Röhren – und Probleme gerade an den Schnittstellen zwischen diesen einzelnen Zweigen auftreten.
Im Interesse der Entwicklungsfähigkeit und des sozialen Zusammenhalts der Stadt müssen alle Akteure Berlins in der aktuellen Legislaturperiode die berufliche Bildung in ihrer Gesamtheit – in allen Teilsystemen und teilsystemübergreifend - zu einem zentralen Politikfeld machen. Nur so kann es gelingen, Antworten auf den Fachkräftemangel zu finden sowie für die nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit und Inklusion aller Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu sorgen.
Wir sehen dringenden Handlungsbedarf und fordern
- eine massive Stärkung Dualen Lernens in den Curricula und dazu die Bezüge zur Arbeit und Berufswelt auf allen Ebenen des Lernens auszubauen.
Dies gilt für die Allgemeinbildung der Sekundarstufen I und II ebenso wie für Angebote der schulischen beruflichen Bildung sowie der Hochschulbildung. Alternierende, zwischen Theorie und Praxis, zwischen Schule/Hochschule und Betrieb/Institutionen wechselnde und aufeinander abgestimmte Lern- und Studienangebote müssen zu einem wesentlichen Gestaltungsprinzip von Curricula und zu einem Schwerpunkt von Schul- und Hochschulprogrammen werden. Damit tragen sie u.a. zu bewussteren Entscheidungen in der Berufswahl bei. Ein starker Ausbau der Berufsorientierung als verpflichtender Curriculum-Bestandteil, auch an allen Gymnasien, muss solche Entscheidungen unterstützen.
- eine faire und nachhaltige Arbeitsteilung zwischen Staat und privaten Unternehmen sowie ihre Übernahme der Verantwortung für die Sicherung eines ausreichenden und bedarfsorientierten Ausbildungs- und Studienangebots.
Vollschulische staatlich finanzierte Angebote der Berufsausbildung, die dieser Sicherung subsidiär dienen, müssen dabei so gestaltet werden, dass sie der betrieblichen Berufsausbildung gleichwertig sind und entsprechend anerkannt werden. In allen Bereichen müssen hinreichende Qualitätssicherungs- und Qualitätsentwicklungssysteme implementiert werden.
- die Aufwertung der betrieblichen und schulischen Berufsausbildung als Zugangsberechtigung für ein Hochschulstudium.
Eine abgeschlossene Berufsausbildung muss den uneingeschränkten Zugang zum Hochschulstudium ermöglichen. Leistungen aus Berufsausbildung und beruflicher Weiterbildung müssen dort, wo es fachlich Überschneidungen und Anknüpfungspunkte gibt, auf Studienleistungen anrechenbar sein. Dies erfordert Veränderungen in den Curricula, Prüfungsordnungen und Zugangsberechtigungen zu Berliner Hochschulen.
- eine Neugestaltung des Übergangs von der allgemeinbildenden Schule in die berufliche Bildung durch Auflösung der Dauerbaustelle Übergangssektor.
Zur Verbesserung dieses Übergangs gehört es, dass die Hauptverantwortung für die Ausbildungsfähigkeit Jugendlicher wieder klar bei der allgemeinbildenden Schule verortet wird. Die Warteschleifen des Übergangssektors müssen durch ein modulares Ausbildungsangebot mit einer verbindlichen Ausrichtung auf einen Berufsabschluss und einer Verwertungsgarantie ersetzt werden. Für besonders benachteiligte Gruppen müssen durch die Arbeitsförderung und die Jugendhilfe verantwortete sozialpädagogisch ausgerichtete Angebote deutlich ausgeweitet werden. Für diejenigen, denen ein Abschluss einer Berufsausbildung dennoch nicht gelingt, muss ein institutionalisiertes, lebensphasenübergreifendes System einer Berufsausbildung in Bausteinen greifen, mit dem berufsbegleitend und in Phasen der Arbeitslosigkeit eine Berufsausbildung schrittweise absolviert und nach und nach vervollständigt werden kann.
Die Reform der beruflichen Bildung in Berlin kann nur mit dafür befähigten und gut ausgestatteten Institutionen gelingen. Dies gilt insbesondere für die Oberstufenzentren (OSZ) als komplementäre Anbieter beruflicher Bildung. Mit der Vielfalt ihrer Bildungsgänge ist ihr Angebot derzeit zu wenig transparent, und sie leiden darunter, die Versäumnisse der Allgemeinbildung kompensieren zu müssen. Hier gilt es, durch entschiedene Reformpolitik gegenzusteuern, das Profil der OSZ zu schärfen und ihre Leistungsfähigkeit zu erhöhen.
Reformpolitik zur Zukunftssicherung beruflicher Bildung in Berlin ist nicht nur eine Forderung nach mehr Finanzmitteln, sondern eine Initiative, Getrenntes zusammenzufügen, Schnittstellen neu zu gestalten und politisches Handeln an einem Masterplan für eine zu-kunftsfähige berufliche Bildung auszurichten. Wir appellieren an die politischen Verantwortlichen und anderen Akteure, die Behandlung beruflicher Bildung als Gesamtsystem durch eine ressortübergreifende operative Task Force „Berufliche Bildung“ mit starker Federführung einer Senatsverwaltung und klarer Arbeitsteilung abzusichern. Für einen Masterplan beruflicher Bildung bedarf es belastbarer Informationen und Daten, die derzeit vielfach fehlen. Wir fordern deshalb einen jährlichen, das Gesamtsystem abbildenden „Berliner Datenreport Berufliche Bildung“ als geeignete Grundlage für die Formulierung von Zielen, Kennzahlen und Aktivitäten.
Berlin, September 2022